Diese Seite behandelt das Messie-Syndrom oder Vermüllungssyndrom, seine seelischen Ursachen und seine Heilung.
zusammengestellt von Oliver Prygotzki
Äußerlich auffällige Merkmale sind u.a. zwanghaftes Horten (Compulsive hoarding), zwanghaftes Durcheinander (Cluttering), Hausen im Siff (Living in Squalor) und zwanghaftes Aufschieben (Procrastination).
Vernachlässigung > Selbstvernachlässigung
Das Kind kommt mit einem offenen, unschuldigen Herzen auf die Welt, sein ganzes Bewußtsein ist reines Gefühl und ohne Verstand. Vernachlässigung
erlebt das Kind traumatisch. Überwältigt von Schmerz, Hilflosigkeit,
Minderwertigkeit und Mangel, fühlt es sich weder geborgen, noch
angenommen; dies erschüttert sein gesamtes Vertrauen in die Welt, die
Eltern und in sich selbst (Selbstvertrauen). Spätfolgen davon sind u.a.
Lebensuntüchtigkeit, Selbstvernachlässigung bis hin zur Verwahrlosung.
Siehe auch: Oh Kinderlein kommet! — Wenn Kindheit sich entfalten kann (oder eben auch nicht…)
Beschreibung des Messie-Syndroms (wikipedia.org)
Das Messie-Syndrom (von engl. mess
= Unordnung, Dreck, Schwierigkeiten) bezeichnet das Problem, den Alltag
zu organisieren, die Wohnung ordentlich zu halten und das Leben zu
meistern. [Es äußert sich in]
- Unordentlichkeit bis zu Geruchsbelästigung und hygienischen Problemen
- zwanghaftem Sammeln wertloser oder verbrauchter Dinge
- ständigen Zeitproblemen
- Lähmung, auch in wichtigen Situationen nicht handeln zu können
- eingeschränktem sozialem Umgang, vor allem durch eine unbetretbare Wohnung
- Hilflosigkeit unter dem Druck des Chaos
Messies
haben häufig Schwierigkeiten, Prioritäten zu setzen, also
beispielsweise landet die gesamte Post (ob Werbung, Mahnungen, wichtige
Briefe) irgendwo in einer Schublade anstatt, dass sie sortiert und
bearbeitet wird.
Im
Extremfall führt die Unordnung dazu, dass schließlich größere Bereiche
der Wohnung nicht mehr betretbar sind, mitunter verbleiben nur noch enge
“Fußwege“ zwischen großen Haufen, Kisten und Säcken. Schließlich kann
es zur Unbewohnbarkeit der Wohnung kommen.
Die
Betroffenen sind nach außen häufig unauffällig. Messies erscheinen
meist als optimistische, vielseitige, kreative und offene Menschen,
lediglich mit einer Tendenz zu Perfektionismus und Hektik. Sie sind
unfähig, zwischen brauchbar und unbrauchbar zu unterscheiden und dieser
Einsicht entsprechend zu handeln. Messies schämen sich der von ihnen
geschaffenen Unordnung und leiden darunter. […]
Ausschnitt aus: Wikipedia-Artikel Messie-Syndrom
Die Messie-Formel
Messie := Weitgehende Frustrations-Resignationen beim Gestalten des eigenen Privatumfeldes
- Weitgehend
- bedeutet nicht allumfassend. Die Frage, welche Teilbereiche eines Messie-Haushalts betroffen sind, variiert von Person zu Person. Umgekehrt können auch ganz verschiedene Bereiche z.B. Badezimmer oder nur ein Schrank normal oder oft sogar "vorbildlich funktionieren". […]
- Frustrationen
- setzen Bemühungen voraus. In ihrer ersten Untersuchung fand Frau Dr. Steins »Überforderungssituationen als häufigen Auslöser«, falls ein Auslöser bestimmt werden konnte. […]
- Resignation
- bedeutet nicht nur das Einstellen von weiteren Handlungen, sondern auch eine durchaus vorhandene prinzipielle Handlungsbereitschaft einerseits und demgegenüber andererseits das Vorhandensein einer tiefsitzenden wohlbegründeten emotionalen Ablehnung. Jeder weitere Versuch begegnet eben dieser Ablehnung, er muß sie erstens »überwinden« oder einfacher: umgehen und darf sie zweitens auf keinen Fall verschlimmern!
- Gestalten
- meint etwas Schöpferisches Individuelles, kein rein kopierender oder bewahrender Akt. Es spielt auch auf den Ausdruck der eigenen Persönlichkeit an, als Abgrenzung von Vorbildern und Idolen und geht über das Bewahren alter Traditionen hinaus.
- Privatumfeld
- ist z.B. typischerweise die eigene Wohnung, jedoch in der Regel nicht z.B. das berufliche Umfeld, da dies nicht immer durch die Funktionsstörungen im privaten Bereich umfassend leidet. Die beruflichen sozialen Beziehungen sind anders als die privaten. Jedoch gelten viele Messies als unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt.
Gekürzt aus: www.messies-selbsthilfe.de [Seite wurde gelöscht]
Vier Typen von Messies
Werner Groß (Jg. 1949, Dipl.-Psychologe) unterscheidet vier Typen von Messies:
- Die «Eichhörnchen», bei denen das Horten bis zur Vermüllung gehen kann,
- die «Zeit-Chaoten», die immer zu spät kommen oder Termine verbummeln, bis sie ihre Freunde oder den Job verlieren,
- die «Chaosarbeiter», die alles beginnen und nichts zu Ende bringen,
- und die so genannten «Ich-Chaoten», die von allem etwas verstehen, sich für alles begeistern, zwischen Themen, Trends und Interessen umherirren, ohne je bei irgendeiner Sache zu bleiben.
Ausschnitt aus: Renate Kingma: Wenn Sammelwut krankhaft wird (Berliner Morgenpost, 4.5.2002)
Grade des Messie-Syndroms
Peter Dettmering (Jg. 1933, Psychoanalytiker) unterscheidet drei Grade der Vermüllung:
- [Plunder mit System]
Wohnungen, in denen wertlose Gegenstände nach einem „Ordnungsschema“ gesammelt werden. Hier existiert manchmal ein Gangsystem, das an die Bauten von Nagetieren erinnert. - [Plunder ohne System]
Wohnungen, in denen Dinge ohne System gehortet werden. Sie gleichen eher Müllhalden, und die Benutzung wichtiger Gebrauchsgegenstände, wie Herd und sanitäre Anlagen, ist stark eingeschränkt. - [Verwahrlosung]
Wohnungen, die unbewohnbar geworden sind, weil ihre hygienischen Einrichtungen nicht mehr funktionieren. Hier finden sich oft Essensreste, Urin und Exkremente im Wohnbereich.
Ausschnitt aus: Werner Groß: Messie-Syndrom: Löcher in der Seele stopfen (Dtsch Arztebl 2002; 99: PP 419–420 [Heft 9])
Johannes von Arx unterscheidet drei Grade des Messie-Syndroms:
„Prä-Messies“ | „Messies“ | Verwahrloste | |
---|---|---|---|
Charakterzug | An vielem interessiert | An allem interessiert | An nichts interessiert |
Krankheitswert | — | Fast immer: Psychosomatische Krankheiten, Depression, Sucht, ADS, Körperbehinderung, Zwang | Diagnostizierbare Krankheit, Schizophrenie, Demenz, Drogen |
Fähigkeiten | Ab und zu „richtig“ aufräumen können | Funktionsfähig bleiben können (innen und außen) | Nur noch minimale Fähigkeiten |
Unfähigkeit | Immer sofort Ordnung schaffen zu können | Brauchbares fortwerfen können, Ordnungsstrukturen aufrecht erhalten können | Fast keine Strukturen aufrecht erhalten können |
Gegenstände, realer Eindruck | Material einer oder zwei Sorten, z.B. Papier, meist auf einen Teil der Wohnung begrenzt | Mehrere Sorten an Materialien, teilweise oder ganz ungeordnet herumliegend, Wohnungseinrichtungen meist noch funktionstüchtig | Abfall, Essensreste, Schmutz, Gestank, Wohnungseinrichtungen meist nicht mehr funktionstüchtig |
Heimbesuche | Kaum Problem | Meist großes Problem | Unmöglich |
Hygiene | Kein Problem | Kein oder minimales Problem | Großes bis extremes Problem |
Beruf | uneingeschränkt arbeitsfähig | Teilblockaden durch Krankheit und/oder Chaos | meistens großenteils bis ganz arbeitsunfähig |
Quelle: Johannes von Arx: Verwahrlosung, Vermüllung, Messie? — Wenn die Wohnung im Chaos versinkt (Vortrag am 25.10.2004)
Charakteristik eines Messies
Perfektionismus
Eine
auslösende Überforderungssituation wird oft durch Teufelskreise selbst
wieder hergestellt und beständig erhalten. Z.B. durch den typischen
Perfektionismus, dem man selbst nicht gerecht werden kann. Nach dem
durchaus vernünftigen Motto: etwas, was man nicht schaffen kann, erst
gar nicht anzufangen – wird aus einem »Tasse abwaschen« z.B. eine
»Komplette-Hausputz-Idee«, was in der aktuell gegebenen Zeit nicht
schaffbar ist – die Tasse bleibt dreckig stehen.
Passives Erleben
Darunter
leiden Messies massiv, fühlen sich minderwertig, weil sie sich einer
als normal dargestellten Aufgabe nicht gewachsen fühlen.
Messies
erleben sich mehr als passiv in einer auf sie einstürmenden Welt und
weniger als aktiv ihr eigenes Leben frei gestaltend. […]
Rechtschreibung / Trotz < 4. Lebensjahr
Öfters
unangemessen schlechte Rechtschreibung, insbesondere mit sehr langsamem
Schreiben einerseits oder auffällig gute Rechtschreibung mit
Sprachtalent andererseits sowie verschleppte Trotzphasen mit hoher
Angepasstheit können auf eine vor dem vierten Lebensjahr liegende
Ursache deuten. Auf eine sehr frühe Ursache deutet ebenso die
Verunsicherung, ein Mangel an Urvertrauen.
Gegenstände / Müll / Denkmäler / Zwang
Das
Nichtgesehenwerden der überforderten Person dürfte der Grund sein,
warum sich im Gegenzug die Person durch Tätigkeiten oder durch diese
repräsentierende Gegenstände selbst identifiziert. Dies würde auch die
häufige »zwanghafte« Wichtigkeit der Beschaffung bestimmter Gegenstände
teilweise erklären.
»Müll (Unordnung) schützt den Messie vor Identitätsverlust.«
Es darf auf keinen Fall mit Druck zum Aufräumen gedrängt werden, sonst
muß in der Regel mit massivstem aktivem und vor allem passivem
Widerstand gerechnet werden. Es wurde die Entwicklung von zwanghaften
Verhaltensweisen beim »Aufräumen« beobachtet.
Frau Dr. Gisela Steins wies nach, daß Messies zu zwanghaftem Verhalten neigen, jedoch nicht zwangskrank sind.
Bei
dem »unordentlich« Herumliegenden handelt es sich um Denkmäler für
Aktivitäten und Vorhaben. Es einfach »wegzuräumen« würde entweder das
starke Pflichtbewußtsein des Messie zutiefst verletzen, oder ihn seiner
Hobby-Aktivitäten und »letzten Freiheiten« berauben. In jedem Fall ist
es ein enormer Eingriff in seine Privatsphäre.
Ursachen des Messie-Syndroms
Das
Erleben von Schmerzen, Hilflosigkeit, Minderwertigkeit und Mangel
gerade in der frühen Kindheit ist eine erschreckende und erschütternde
Erfahrung.
Wenn
Demütigung und Schmerz zu groß werden, die Kränkung unüberwindbar, dann
erstarrt der Mensch innerlich und spaltet sein Gefühl von seinem
Erleben ab. Er bleibt gewissermaßen in der Situation stecken, sein
Ausdruck gefriert, sein Bewusstsein engt sich ein. Es darf nicht mehr
zugelassen werden, zur Wahrnehmung, was ihn der Gefahr der erneuten
Kränkung oder des erneuten Verlassenwerdens ausliefern könnte. So kommt
es, dass wir später ähnlich strukturierten Erlebnissen mit der gleichen
starren Formel begegnen. Langanhaltende Enttäuschung, Missachtung der
Ich-Grenzen, Ungeliebtsein, sexueller und emotionaler Missbrauch,
Überstimulierung oder Vernachlässigung, gepaart mit der Unfähigkeit oder
dem Verbot, darüber zu sprechen oder sich zur Wehr zu setzen, sind
wesentliche Verdrängungsmotoren und können zu krankhaften Entwicklungen
führen.
Vermutlich
verdrängen alle Menschen unseres Kulturkreises in früher Kindheit und
tragen einen Teil dieser Haltung mit ins Erwachsenenleben. In Traumen
und Konflikten der Kindheit scheinen die wahren Ursprünge der
Verdrängung zu liegen, die dann zum Dauerproblem werden, wenn das
Verdrängte unverstanden wiederkehrt und belastet. Frühe Leidabwehr wird
zum Leidensprozess. Später werden nicht nur die Impulse vergessen, auch
die Gedanken- und Gefühlsinhalte, die an diese früheren Situationen
gekoppelt sind, werden verdrängt, und in einem Teufelskreis verstärken
sich diese Phänomene gegenseitig.
Der
Mensch kann nicht einmal mehr wissen, dass er gelitten hat. Die
Lebenseinschränkung durch unverstandene Verdrängung bedeutet für die
Betroffenen Leid und Lähmung, die Angst kann sich bis zu Panik steigern.
Verfällt
der Mensch in Hilflosigkeit und Handlungsohnmacht, entgleiten ihm die
Mitmenschen und damit der wichtigste Teil der Welt. Eine aufmerksame
Umgebung spürt ein Unbehagen in der Nähe der Messies. Wir sehen uns
Erwachsenen gegenüber, denen nichts weiter widerfahren ist als die
normalen Lebensschwierigkeiten, die mit Affekten aufgeladen wurden.
Verdrängungen in der Kindheit können so im Erwachsenenleben eine Rolle
spielen, müssen es aber nicht. Je nach individueller Einschätzung wird
ein Erlebnis traumatisch ausfallen oder nicht. Ein Trauma wird erst zum
Trauma, wenn das Kind es dazu macht, ein Zustand, in dem das Ich sich
hilflos und überwältigt, gar vernichtet fühlt.
Das wahre Ausmaß dieser
Grund-Angst wird wohl nie ganz zu erfassen sein, aber die Reaktion
darauf ist der starke Wunsch, Ordnung, Überschaubarkeit und Sicherheit
zu schaffen, aber durch das Selbstbild der Unzulänglichkeit entsteht
Scham. Das Selbst leidet vor allem an Entwertung und dieses wiederum
zieht Selbstvernachlässigung und Selbstlosigkeit, das heißt Leben ohne
eigenes Selbst, nach sich. Wie wir von den eigenen Erwartungen (z. B.
Perfektionismus) an uns beherrscht werden, werden wir die Auswirkungen
unseres Handelns zu verbergen suchen. Je gebildeter allerdings ein
Mensch ist, desto negativer sieht er sich selbst und wer seine
Selbstentwicklung versäumt – fördert schließlich seine Scham. Das hat
zur Folge, dass man sich von anderen Menschen isoliert.
Das
Grundgefühl der Geborgenheit und das grundsätzliche Angenommensein (aus
denen Selbstachtung und Mut erwachsen) wird von der Mutter vermittelt,
und das bewirkt die gefühlsmäßige Öffnung zu anderen. Entsprechend
wächst die Gefühlsfähigkeit und die Fähigkeit zur Kommunikation. Aber
Offenheit macht auch schutzlos. Sich der Welt preiszugeben bedeutet dann
eine existenzielle Bedrohung, wenn der Mensch in der Kindheit ein
Übermaß an Angst, Zurückweisung und Hemmung erfahren hat.
Eine
Vertrauensphase beginnt: Je nach der Qualität unseres Vertrauens können
Eltern ihre Kinder unterstützen oder hemmen.
Je mehr Kontrollen sie
einsetzen, umso stärker hemmen sie die Entwicklung. Jedes signalisierte
Zögern hat Bremswirkung. Dann zieht sich der Mensch zurück, er verhärtet
und verkapselt sich, es ist eine Abwendung von der Welt insgesamt. Mit
dem Sich-Verschließen ist eine Reduzierung des Gefühlslebens und der
Kommunikation sowie eine Verstärkung von Affekten und Phantasietätigkeit
verbunden. Sekundär entsteht eine Haltung der Abwehr, der Skepsis und
der Feindseligkeit.
Stärkste
Hemmungsfaktoren sind erzieherische Härte, Lieblosigkeit und
Verwöhnung, die das Kind einschüchtern, ihm seine Selbständigkeit nehmen
oder aber Trotz hervorrufen. Angst und Schuldgefühle sind grundlegend
am Zustandekommen von Gehemmtsein beteiligt. An nicht einfühlsamen
Eltern rächt sich das Kind mit Erkrankungen, Trotz oder schlechten
Schulnoten, wodurch viele Lernprozesse blockiert und lahmgelegt werden.
Die Eltern haben häufig nur den Anspruch und übersehen die Notwendigkeit
der erholsamen Pausen. Der Anspruchsphase muss eine Zeit der
Entspannung folgen. Jedenfalls nimmt der Stress auf diese Weise immer
mehr zu, und die Kinder werden immer unsicherer. Die ursprüngliche
Initiativlosigkeit kann dann durch Überkompensation verdeckt werden,
doch wird es sich dabei mehr um Getue denn um Taten handeln.
Die
nicht adäquate Reaktion von Mutter und Vater kann ein Grundgefühl von
Sicherheit und Wohlbehagen verhindern, was dem Menschen unter Umständen
ein Leben lang anhängt. Durch die Abwehr von Nähe durch die Mutter kann
das Kind kein Urvertrauen entwickeln. Urvertrauen braucht es aber, um
ohne Angst selbständig zu werden. Konkret gesprochen sind es
unverständige, inkonsequente, ambivalente, demütigende und spottende
Eltern, bei denen das Kind sich nicht angenommen fühlen kann und die im
Kind Chaos und Unordnung hinterlassen. Das Bedürfnis nach Liebe wurde
immer wieder enttäuscht, und der Liebesentzug wird zur Behinderung der
Entwicklung in der frühen Kindheit. Diese Behinderung kann bis in die
Gegenwart anhalten.
Es
droht der Verlust der Integrität, wenn in den entscheidenden Momenten
des Lebens nicht „Nein“ gesagt werden darf: Nein zu Überforderungen,
Nein zu unangemessenen Ansprüchen anderer, Nein zu Übergriffen der
Eltern. Wer sich nicht abgrenzen darf und die Kunst der Abgrenzung
verlernt, verliert seine Grenzen. Deswegen ist funktionaler Widerstand
konstitutiv für die menschliche Existenz. Der gesunde Organismus
zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, zur rechten Zeit, an der
richtigen Stelle und auf die subjektiv beste Art Grenzen zu ziehen und
sie aufrechtzuerhalten.
Grenzen
zu ziehen heißt, sich zu orientieren und Identität zu schaffen.
Seelisch unsichere Menschen reagieren beim Überschreiten ihres
Schutzkreises, dieser unsichtbaren, imaginären Grenze durch einen
anderen Menschen mit Panik.
Die
gesunden Widerstände, die den Menschen innere Sicherheit, Stabilität
und eine freie Ordnung sichern, werden im erkrankten Menschen zu
unvernünftigen, wahnhaften, konfusen, fanatischen Widerständen. Das
Kippen vom gesunden Widerstand zum krankhaften Widerstand erweist sich
als infantil wirkende Trotzeinstellung, als starre Fixierung, als sture
Verneinung, mit denen Angehörige und Therapeuten konfrontiert werden.
Bei
Widerstand und Verdrängung handelt es sich um eine mehr oder minder
unfreiwillige innere Verschlossenheit aufgrund seelischer Verletzung.
Zu
der seelischen Verschlossenheit eines Messies gehört eine
Selbstzentriertheit, ein autoplastisches Steckenbleiben in Hemmungen,
Verkrampfungen, Schüchternheit und Vermeidungen. Zu den allgemeinsten
Charakteristiken eines solchem, in sich verfangenen Menschen ist das
nicht „Fertig-Sein“ und der Verlust des Du und der Weltbeziehungen.
Was
für somatische Erkrankungen gilt, findet sich analog in den seelischen
Krankheiten: Der Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen, beschäftigt
sich viel mit sich selbst, sein Aktionsradius ist ängstlich eingeengt
und er sucht verstärkt Ruhe und Abgeschiedenheit. Das Symptom, der
Wunsch Ordnung zu schaffen, mit seinen langdauernden Erscheinungsbildern
verdeckt das eigentliche Problem. Man gibt ihm jede Aufmerksamkeit und
Zuwendung, die eigentlich den charakterlichen Entwicklungen und den
mitmenschlichen Beziehungen gelten sollten.
In
der sensitiven Phase ist der Mensch leicht zu irritieren. Es ist also
vorstellbar, dass eine schwierige Kindheit (in der das Kind
Existenzängste und existentielle Unsicherheiten erlebt hat) zu Lern-,
Denk- oder Handlungsblockaden geführt hat. Nehmen wir einmal an, das
Kind hat in frühen Jahren das Verlassenwerden als traumatisch erlebt und
dieses in späterer Zeit nicht verarbeiten können.
[…]
[Das
Hauptleiden und das Hauptsymptom der Betroffenen] liegt im Zerfall der
tragenden mitmenschlichen Kontakte. Messies treten in die Behandlung
sehr oft mit vielerlei Anzeichen einer mitmenschlichen Unterkühlung und
Kälte ein. So schützen sie sich vor jedem, der ihnen emotional zu nahe
kommt. Der Leidende hat sich festungsartig und unbeweglich in diese
Lebenstechniken vergraben. Der Therapeut muss mit dessen Rigidität,
ausgeprägter Rationalität, großer Gefühlsängstlichkeit, Unsicherheit und
Kränkbarkeit rechnen. Der Grad ihrer Eigenaktivität ist diesen Menschen
nicht wirklich bekannt, und sie sehen viele ihrer Handlungen und
Gedanken nicht als die ihren an. Sie erscheinen ihnen fremd und wie von
einer anderen Person. […]
Es
besteht kein Zweifel, dass Verdrängungen dem Ich viele
Wachstumsmöglichkeiten verbauen, denn Wachsen und Sich-Entwickeln sind
gebunden an die Anerkennung der Realität, und zwar gerade in ihren
zunächst furchteinflößenden Bestandteilen. Zur Realität gehört ferner
die kontinuierliche Zeit des Bewusstmachens. Eins reiht sich ans
nächste.
Etwas
ausblenden wollen, weil man es nicht sehen will, lockert die Beziehung
zur Realität. Bringt der Mensch sein verdrängtes Seelenleben oder den
ausgeblendeten Wirklichkeitsanteil ins Gleichgewicht, so kann sich sein
Ich reicher, flexibler und gesünder entfalten. Wichtig ist die
Erkenntnis, das Liebe und Freundschaft nicht Luxus, sondern
Grundbedürfnisse und Grundforderungen des Daseins sind. Offenheit in der
Therapie und in der Selbsthilfegruppe schaffen die
Wachstumsmöglichkeiten, in der der Mensch bestimmte Lebens- und
Entwicklungsaufgaben bewältigen kann. Als Therapieziel sollte man ins
Auge fassen, was man landläufig bei einem gesunden Menschen für
angemessene Verhaltens-, Denk- und Gefühlsweisen hält.
Das
geht von der Wiedergewinnung eines Urvertrauens über realitätsgerechte
Abkopplungen, Überwindung von Irrationalität, Abbau von destruktiven
Elementen, Stärkung der Selbstverantwortung und des Selbstwertgefühls,
Klärung der Beziehung zu den Eltern, verbesserte Beziehung zu den
Mitmenschen, befriedigender Sexualität, Akzeptierung der Realität, Abbau
von Größenwahn, Erlebnisfülle, Gefühlserweiterung, flexibleren
Abwehrmechanismen bis hin zu den selbstanalytischen Fähigkeiten.
[…]
Es
ist im Erwachsenenleben nicht sinnvoll, mit seinen Bedürfnissen nach
Akzeptanz und sich-angenommen-fühlen auf andere Menschen angewiesen zu
sein. Selbstakzeptanz ist wichtig im Umgang mit anderen Menschen und das
kann man lernen. Wie ersetzen die Suche nach dem Anderen durch eine
Suche nach unserem Selbst – das Erlernen unserer Selbstwahrnehmung und
das Erkennen unserer Bedürfnisse ist ein wesentliches Element zur
Reparatur unseres beschädigten Ich-Empfindens.
Ausschnitt aus: messie-selbsthilfe.de (Bundesgeschäftsstelle der Messie-Selbsthilfegruppen und der Messie-Angehörigengruppen beim FEM e.V.)
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